Hier ist es also: Das Album, das es in seiner jetzigen Form so eigentlich gar nicht geben sollte, glaubt man Sänger Michael Sadler, der die Band Ende dieses Jahres aus persönlichen Gründen verlassen wird. In einem Interview verkündete er noch im Mai, dass es zwar eine umfangreiche Abschiedstour geben wird und eventuell auch ein neues Studiowerk, dass er aber nicht die Vocals auf einem neuen Album übernehmen würde. War da wieder das Showman-Gen beim Bühnen-Zampano dominant? Schon im Juli ging es ins Studio, zwei Monate später liegt mir die Promoversion des 18. Albums der kanadischen MelodicProgger SAGA vor. Und es singt Michael Sadler höchstpersönlich.

„10.000 Days‟ heißt also passenderweise das Werk, das ein Kapitel Rockgeschichte schließt. 30 Jahre haben die kanadischen Recken jetzt schon auf dem Buckel, sind dabei - mit Ausnahme einer kurzen Trio-Besetzung Ende der 80er und einem in den letzten Jahren recht großen Verschleiß an Schlagzeugern - aber immer in der gleichen Besetzung unterwegs gewesen. Mit dem Weggang von Sadler stirbt SAGA, da sind sich die Fans einig. Wie es jedoch nach der Europatour von Oktober bis Dezember weitergehen wird, das wissen wohl nur Jim und Ian Crichton, Jim Gilmour und Brian Doerner. Doch konzentrieren wir uns auf die letzte Hinterlassenschaft der fünf Jungs, die neun Songs und 51 Minuten Spielzeit bietet. Was ist „10.000 Days‟? Ein lustlos zusammengeschusterter Schnellschuss a la „Pleasure And The Pain‟, ein klassisches Saga-Album in der Tradition von „World‛s Apart‟, oder doch ambitioniertes, experimentelles Neuland?

Michael Sadler bezeichnet „10.000 Days‟ als ein Album, das den Hörer in erster Linie unterhalten soll. Es gibt kein tiefgehendes Konzept. Bereits der Opener „Lifeline‟ mit seinem atmosphärischen Keyboardintro, das wie das Leben selbst mal ruhiger, mal hektischer läuft und die bald daraufhin einsetzenden Gitarrenriffs machen klar: Das hier ist SAGA pur, SAGA wie die Fans sie lieben und SAGA, die so musizieren, wie sie es am besten können. Die Strophen leben von dem majestätischen Gesang Michael Sadlers und den sanften Pianotönen von Jim Gilmour, der zweigeteilte Refrain verbindet gekonnt rockige Shouts und einprägsame Melodien. Das Gitarrensolo von Ian Crichton darf natürlich auch nicht fehlen, fällt hier sehr atmosphärisch und sanft aus, ehe der Song nach einem weiteren Refraindurchgang mit dem Keyboardintro endet, wie er beginnt. Das nachfolgende „Book Of Lies‟ beschäftigt sich lyrisch auf ironische Art und Weise mit Tournee-Planungen, bei denen SAGA in der Vergangenheit ja auch nicht immer nur Glück hatten. Hier gefällt vor allem der extrem atmosphärische, auch recht lange Instrumentalpart, der mir regelmäßig Gänsehaut verpasst. Auffällig ist, dass ein Teil des Keyboardleads eindeutig aus einem anderen Song stammt, das ist sicher kein Zufall. Der Refrain wirkt bei den ersten Hördurchgängen etwas langgezogen und bremsend, dieser Eindruck relativiert sich allerdings. „Sideways‟ startet mit einem tollen Piano-Gitarren-Intro und wird dann eine melodische SAGA-Nummer allererster Güte. Bewegend, mitreißend und herzerwärmend. Auch hier gibt es klare Remiszenzen an die bandeigene Vergangenheit. Bei „Can‛t You See Me Now?‟ nerven die dauerhaft wiederholten Textzeilen ‟Don‛t You See Me Now?‟ und ‟Can‛t You See Me Now‟. Der moderne, brodelnde Keyboardsound und die Gitarrenlicks geben dem ganzen Track aber einen interessanten Sound, der Refrain ist wieder im Midtempo gehalten. Auch hier gibt es wieder einen längeren, verfrickelten Instrumentalpart. Das scheinen die Jungs Anno 2007 zu mögen. Textlich ist dieser Song, wie auch noch andere auf ‟10.000 Days‟, klar der Farewall-Abteilung zuzuordnen. Hier wird ein gelebtes Leben mit seinem Auf und Ab beleuchtet, und der Bezug zu Michaels Ausstieg kann auch hergestellt werden, wenn man folgende Zeilen liest: „You‛ll always be a part of me, and that is how it‛s gonna be, I know right know, there is no other way.‟

Genau in der Mitte des Albums steht mit „Corkentellis‟ ein Instrumental, welches mit über sieben Minuten Spielzeit so ziemlich die längste Nummer der Band überhaupt sein dürfte. Zwar wird mir damit nicht der Wunsch nach einem über 10-minütigen Longtrack erfüllt, dennoch zeigen sich die Jungs hier einmal von ihrer sehr verspielten, frickeligen und rasanten Seite. Das Instrumental hat eine klare Struktur und führende Melodien, aber immer wieder gibt es Ausflüge nach links und rechts, durch alle nur möglichen Stimmungen. Fantastisch, wie Ian Crichton und Jim Gilmour an ihren Instrumenten brillieren, sei es im bandeigenen Unisono-Spiel oder bei Soloabfahrten. Sogar ein kurzes Bass-Solo von Jim Crichton ist zu vernehmen. Mit „Corkentellis‟ hat man somit auf „10.000 Days‟ schon etwas Neuartiges gemacht, denn das einzige andere Instrumental, das mit voller Besetzung daherkam, war „Conversation‟ von World‛s Apart und ist nicht wirklich mit diesem Song hier zu vergleichen. "Corkentellis" erinnert mich ein wenig an Enchants „Progtology‟, vor allem vom Songaufbau. Mit „More Than I Deserve‟ verabschiedet sich Michael Sadler auf sehr persönliche Art und Weise von seinen Fans und Mitmusikern. Musikalisches Fundament dafür ist eine Pop-Ballade mit seichtem Rhythmusmacher und sanfter Akustikgitarre. Klingt ganz eindeutig nach Material von seinem Soloalbum „Clear‟. ‟More, more than I deserve, memorys that we burn remain, locked in yesterday‟, singt er da, erzählt von den magischen Momenten, die er auf den Bühnen der Welt praktisch mehr als sein halbes Leben über hatte. Es gibt ein sehr lyrisches E-Gitarrensolo von Ian, leider bleibt der Songs aber über die gesamte Spieldauer recht einfältig, der Refrain wird recht oft wiederholt. Eine größere Steigerung oder eine Akustikgitarrenpassage hätte dem Song wohl richtig gut getan. So ist er insgesamt etwas blass. „Sound Advice‟ ist dann ein SAGA-Song wie viele, recht nett, aber nichts wirklich Besonderes. Ich mag es nicht, wenn der Gesang einfallslos die Linien der Gitarre oder des Keyboards mitgeht. Dass die Solispots wie immer gelungen sind, muss nicht extra betont werden. Der Refrain geht ebenfalls in Ordnung.

Mit dem Titelstück gibt es nicht wie erwartet ein zweites „Trust‟, sondern eine mit Horn-Sounds aus dem Keyboard veredelte Ballade, die böse Zungen sicherlich ins Musikantenstadel einsortieren würden. Im Falle von SAGA allerdings finde ich diese Nummer neuartig und trotz ihres Schlager-Refrains (das ist nicht negativ gemeint!) nicht störend oder gar peinlich. Sie klingt durch und durch positiv, macht einfach deutlich, dass keiner in der Band irgendetwas von der 30-jährigen Karriere der Band bereut oder gar Michael Sadler seine Entscheidung übel nimmt. Harmonie, Wärme, echte Emotionalität. Ein paar Melodic Rock-Klischees müssen eben auch mal sein. Gut so! Zum Schmachten schön. „So many faces, now that we‛ve seen, 10.000 Days; so many places, as I try to remember all of their names; and one things for certain, I‛d do it all again, with no regrets, and there is more where that came from‟¦‟ Da denkt man doch unweigerlich an all die Abende, all die Städte, all die Konzerte, die man in den letzten 13 Jahren mit der Band erlebt hat. Es dürften mittlerweile über 15 sein!

Die stampfende Rocknummer, die ich hinter „10.000 Days‟ vermutet hatte, erwartet uns doch noch: Das abschließende, über sechsminütige „It Never Ends‟. Hier gibt es rockige Riffs, episches Piano, typisches Saga-Drumming, Gänsehautmelodien, die zu schweben scheinen und einen selbst abheben lassen, dazu Keyboard und Gitarrenintermezzi, die die Sci-Fi-Stimmung, die die Band von je her vermittelt hat, perfekt zur Schau stellen. Der Refrain rockt, rockt und rockt, mehr kann man dazu nicht mehr sagen. Ein Ohrwurm allererster Güte. „Change your heart, change your pace and hold breath, the feelings are to strong; the time has come to reinvent, the chance to live, the change has come along‟ heißt es in der Strophe. Im Refrain gibt Michael zu bedenken: ‟One door closes, one more opens, time to start again! Looks to me like you could use a friend, ‟˜cause everything must change; it never ends!‟ Gibt es eine schönere Art und Weise, sich von Fans zu verabschieden, als mit diesem Text in Verbindung mit diesen schwebenden Keyboardsounds, diesen sanften, aber sauschnellen Gitarrensoli und dieser Überhymne? Nein! „It Never Ends‟ steht in der Tradition von neueren Saga-Epics wie „Don‛t Make A Sound‟, „We‛ll Meet Again‟ oder „Back To The Shadows‟. Großartig. Und dann verschwinden diese Melodien ganz unauffällig, sanft und leise im Jenseits, werden einfach ausgeblendet. Und „10.000 Days‟ sind um.

Nach 51 Minuten haben die Fans die Erkenntnis, dass die Ur-SAGA sich keineswegs halbgar, sondern voller Herzblut und Hingabe verabschieden. Wie schon „Trust‟ ist auch „10.000 Days‟ ein klassisches SAGA-Album geworden. Etwas anderes hätte man den Fans als eventuell allerletztes Album auch gar nicht anbieten dürfen! Wer hier große Experimente, die totale Hinwendung zum Prog oder ähnliches verlangt, sollte lieber mal seine Prog-Brille absetzen und SAGA als das betrachten, was sie sind: Eine anspruchsvolle Melodic- und Hardrock-Band, die 30 Jahre einen der besten Sänger des Rockbusiness als Frontman hatte. „10.000 Days‟ vermittelt dabei den Eindruck, nicht ganz so lebendig und rockig zu sein wie ihr direkter Vorgänger „Trust‟, zu dem ich damals schrieb: „Es ist ein verdammt gutes Album! Das beste aus dem Hause SAGA seit langer, langer Zeit und eventuell das beste, was die Jungs in ihren alten Tagen noch zusammenzimmern können. Ich glaube jedenfalls kaum, dass es noch mal besser geht.‟ Dabei bleibe ich. „10.000 Days‟ ist melodischer, Midtempo-lastiger, schwebt eher, als das es rockt. Natürlich gibt es auch hier rockige Parts und Ian Crichtons Gitarre ist im Mix auch deutlich präsent, dennoch fallen zum Beispiel seine Soli auf der gesamten Platte eher sanft und weich aus. Wenn nicht vom Spiel, dann zumindest vom Sound. Mit „More Than I Deserve‟, und - mit Abstichen - „Sound Advice‟ und „Can‛t You See Me Now‟ gibt es zwar Nummern, die nur Mittelmaß sind, der Rest weiß aber auf voller Linie zu überzeugen. Qualitativ findet es sich somit ziemlich genau zwischen „Trust‟ und „Network‟ ein, hat allerdings eine wesentliche bessere Produktion als letztere. Vor allem der Schlagzeugsound und natürlich auch das Spiel von Brian Doerner wissen wieder sehr zu gefallen und erweitern den SAGA-Kosmos unheimlich.

Insgesamt und das ist besonders wichtig vermittelt „10.000 Days‟ bei aller soundtechnischer und lyrischer Selbstbetrachtung nicht den Eindruck eines kraft- und lustlosen Pflichtaufgusses oder gar einer Restband, die den Eindruck macht, dass sie das Handtuch wirft. Es kann natürlich sein, dass man einen endgültigen Schlussstrich zieht, aber so melancholisch, so apokalyptisch ist das Album dann doch nicht ausgefallen. Hier wird ein Buch geschlossen, ein Kapitel zu Ende geschrieben, und das Ende enttäuscht nicht, auch wenn das Buch der vergangenen 30 Jahre vor allem im Mittelteil mal etwas schwächelte und eher langweilig rüberkam. Die Spannung kehrte schon wenig später zurück, kam mit „Trust‟ zum Höhepunkt und „10.000 Days‟ ist das versöhnliche, offene Ende, das alle Fans der spannenden Kapitel nicht enttäuschen wird.

Tolle Arbeit, Jungs! Da erscheint es doch nur passend, dass SAGA dem letzten Kapitel der „Michael Sadler-Reihe‟ noch mal ein Cover verpasst haben, das treffender nicht sein könnte. Auch das Alienwesen, das so viele Cover verziert hat, ist gestorben und versteinert. Doch vielleicht erwacht es irgendwann wieder zum Leben! Warten wir gespannt.

Übrigens: Die Abschiedstour von Michael Sadler muss leider ohne Schlagzeuger Brian Doerner stattfinden, da dieser einen Herzinfarkt erlitten hat. Ersatz für ihn wird Chris Sutherland von der Kim Mitchell Band sein.
8,5 von 10

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